Theaterkritik - Teil 1 - Allgemein

Theaterkritiken sind, wie sie sind. Aber müssen sie auch so sein?

 

 

Was ist denn Kritik überhaupt? Bzw. was will sie sein?

 

 

Kritik will eigentlich die Beurteilung von Etwas anhand von gültigen Maßstäben sein. Und es wäre hervorragend, würde jeder Kritiker - also ein jeder von uns irgendwann - damit vornehmlich bei sich und seinem Denken beginnen. So dass zunächst einmal eine Urteilsbildung über die eigenen Maßstäbe stattfindet. Unverzichtbarer erster Schritt, wenn diese Maßstäbe Anspruch auf Gültigkeit oder gar, wie bei Theaterkritiken gerne gesetzt, Allgemeingültigkeit erheben wollen. Dann erst sollte das eigentliche Etwas in Angriff genommen werden, immer aber auch dabei bedenkend, was Kritik per Definition nicht sein sollte, nämlich bloße, verbalisierte Skepsis, engstirnige Beckmesserei, nervtötende Nörgelei, Tadel & Schelte zwecks (Um-)Erziehung im eigenen Sinne, verächtliche Schmähkritik oder gar ihr Verwandter, der Verriss, dem es nie um Verbesserung, sondern lediglich um Vernichtung geht – weil der Kritisierende es kann, die Macht dazu hat.

 

 

In der Literatur, über Gottsched initiiert, meinte das „Critische“ ursprünglich eine theoretischen Diskurs über die Literatur, um regelpoetische Grundlagen zu erzeugen, zu gewinnen, durchzusetzen. Eigentlich also das Erstellen der vorgenannten Maßstäbe. Anhand derer dann wiederum entsprechend Vor- und Ausgebildete – später dann – Literaturkritiken im heutigen Sinn verfassen konnten.

 

 

Die Theaterkritik ging, über Lessing, einen vergleichbaren Weg. An seinem Arbeitsplatz, dem Hamburger Nationaltheater, setzte er sich intensiv mit den grundsätzlichen ästhetischen Fragen des damaligen Theaters an sich auseinander. Und besprach dann, nach und nach, auf dieser vorgedachten Basis, einzelne Aufführungen. Wie noch heute in seinem Werk „Hamburgische Dramaturgie“ nachzulesen. Andere Literaten taten es ihm gleich. Bis das 19. Jahrhundert eine Spezialisierung forderte mit Oper-, Ballett- und Schauspielkritik.

 

 

Und Ende des 19. Jahrhunderts „explodierte“ dann die Welt. Industrialisierung, Verstädterung, Kapitalismus, Fortschritt, Vereinsamung. Und dieser Explosion versuchten nicht nur die Menschen, sondern auch die Künste standzuhalten, Paroli zu bieten. Eine Epoche überholte die nächste, eine Stilrichtung wollte die Umwälzungen besser erfassen, verwerten und wiedergeben, als die andere.  Und folglich musste die Spezialisierung der Kritiker vorangetrieben werden. Idealerweise.

 

 

Was bei der Literatur vielleicht noch in gewissem Umfang möglich war, ließ sich bei den Bühnenkünsten kaum bewerkstelligen. Denn die Künste flossen ineinander. Komponisten schrieben für die Bühne, Dramatiker schrieben, Kostümen wurde eine neue Wertigkeit zugeschrieben, was Kostümbildner auf den Plan rief, Realismus und Abstraktion im Bühnenbild forderte die bildenden Künstler heraus, und „nackte“ Bühnen Licht-Designer.

 

 

Was mehr und mehr an einem Abend, auf einer Bühne, von einem Ensemble, unter einem Regisseur, in einer Inszenierung, nachtvergänglich, und somit nur bedingt überprüfbar, angeboten wurde und wird, diese künstlerische Fülle, diese Gesamtkunstwerke, geschaffen von Menschenkonglomeraten, die sich mal mehr, mal weniger, aus Mimosen, Selbstverliebten, Zweiflern, Genies, Größenwahnsinnigen und einigen wenigen Realisten zusammensetzen, diese Bühnenkunst lässt sich kaum noch im ursprünglichen Sinn kritisieren. Wer denn hätte alle notwendigen Maßstäbe parat? Wer wäre, ohne explizites, zeitraubendes Vor-Denken, fähig, über heutige Kunst und Kunst-Events so nach-zusinnen, dass ihr oder ihm eine Beurteilung des wahrgenommenen Etwas anhand von gültigen Maßstäben gelingen könnte. Ich mutmaße, niemand. Aber selbst wenn es diese Wissensmeister gibt - ob sie ihr Wissen wohl als Rezensent teilen werden?

 

 

Zwar hat das im 19. Jahrhundert unter Humboldt neuhumanistisch gedachte „Studium Generale“ eine kleine Renaissance an den Universitäten im 21. Jahrhundert erfahren, aber eine, auf das Gesamtwissen bezogene, vergleichbare Allgemeinbildung lässt sich heute damit wohl nur schwer erreichen. Und folglich dürfte die Sache mit den (allgemein-)gültigen Maßstäben heute „so eine Sache“ sein.

 

 

Wen darf es also wundern, dass Theaterkritiken so sind, wie sie sind? Sie müssen ja wohl so sein.

 

 

Ist das „Haus“ ein großes, renommiertes Theater, dann schreiben in aller Regel „wichtige“ Leute, die in aller Regel exklusiv für das Feuilleton arbeiten, in aller Regel für eine große, überregionale Zeitung oder ein Fachorgan. Selbstverständlich sind diese mit viel Wissen über das Theater bepackt. Über das „klassische“ Theater - und das ist schon viel. Über das Postdramatische, Postfaktische, Zeitgenössische - und das wird stündlich mehr.
Sie schreiben über das, was sie nach aller Voraussicht erwartet. Denn die großen Knallbonbons sind selten. Schreiben über das, was sie persönlich, live und einmalig gesehen haben, mit der Gewissheit der Unmöglichkeit, dass sich dieses gesehene, erlebte und beschriebene Ereignis noch einmal exakt so wiederholen wird - und also nie mit dem Leser, für den es beschrieben wird, teilbar sein wird.
Doch sie schreiben auch oft genug über das, was sie gerne gesehen hätten, aber nicht gesehen haben, über das eben, was sie erwartet haben. Also über eine zerstörte Erwartungshaltung. Damit die Maßstäbe, die sie „intus“ haben, am Ende doch wieder greifen können. Berufsehre.
Doch nicht allen gelingt es dann in Objektivität zu verharren. Gleich in welchem Genre. Worüber auch schon Krimis und Theaterstücke und sonstige Literatur geschrieben wurde.

 

 

Je kleiner das „Haus“ ist, umso regionaler, umso lokaler ist das Interesse der "Presse". Verständlich. Liegt am Leserkreis regionaler Presse. Städter mit direkten kulturellen Zugriffsmöglichkeiten interessieren sich prozentual mehr für die "großen Häuser" als Menschen, die weitab "vom Schuss" wohnen.
Nicht dass man SIE hier nun nicht finden könnte, die fürs "Große" gebildeten Rezensenten, mit einem umfassenden, breit gefächerten Wissen um die Künste, wo wir Normalen nicht mehr mithalten können. Aber aus rein finanziellen Gründen werden sie de facto doch seltener in den Abteilungen für das Regio-Kulturelle zu finden sein. Also muss und darf zumeist am Ende doch ein ganz normaler Mensch und Journalist, mit Leidenschaft fürs Kulturelle, mit Liebe fürs Schreiben, ins "Spielhaus" gehen und darüber schreiben.
Und so sind Theaterk
ritiken aus der Region zumeist - Ausnahmen bestätigen die Regel - Mischungen aus belesener Inhaltsangabe und abschließendem Veranstaltungshinweis. In den erwähnten Ausnahmefällen mit einer kleinen, eingeschobenen, subjektiven Wertung des Gesehenen, in aller Regel wohlwollend charmant und Sehenslust beim Leser erzeugend.

 

 

In beiden Fällen aber, Achtung!, aus dem Blickwinkel der „Mimosen, Selbstverliebten, Zweiflern, Größenwahnsinnigen und Realisten“, die für den Abend Verantwortung tragen, aus diesem Blickwinkel nicht und nie ausreichend, um eben ihnen auch nur im Geringsten und in allen ihren Befindlichkeiten gerecht werden zu können.
Schon auch deswegen, weil selbst die neuhumanistische Renaissance ein wahres Interesse am Gegenüber, am anderen Individuum, nicht zurückholen konnte. Weil das Individuum, für das wir uns heute am meisten interessieren, im Großen und Ganzen dann doch das Ich ist.

 

 

Und so wundere ich mich am meisten über mich. Dass ich mich immer wieder wundere. Dass sich Theaterkritiken so lesen, wie sie nun mal zu lesen sind. Weil sie ja doch nicht anders sein können. Nicht mehr so sein können, wie sie mal waren. Aus einem vergleichsweise umfassenden Wissen umWelt und Bühnengeschehen und einer dafür heiß und verzehrend brennenden Liebe geschrieben. Gesehenes bewertend, um die Tätigen auf Aspekte ihres Tuns hinzuweisen, die sie, unter den anerkannt gültigen Maßstäben ihrer Zeit, ändern, verbessern, optimieren könnten, auf dass der Schreibende, wie auch die Lesenden beim nächsten oder übernächsten Mal an etwas Gewachsenem teilnehmen können.

 

 

Theaterkritiken sind, wie sie sind. Aber müssen sie auch so sein? – Ja.