Was sollte ein professioneller Schauspieler ...?

Was sollte ein professioneller Schauspieler am Ende seiner Ausbildung können?

(Ich verzichte auf jedwede Genderung. Selbstverständlich sind immer Frauen und Männer gemeint.)

EINLEITUNG
Er sollte zu einem Künstler mit ganz bestimmten Fertigkeiten geworden sein. Vor allem aber muss er gelernt haben, wie er seine Kreativität anschiebt, und zwar immer genau dann, wenn er sie gerade benötigt. – Da sind die Vorbereitungszeiten, die Probeneinheiten, die Vorstellungen, die Drehs. Und all diese Phasen und Momente bekommen von der Außenwelt ein Zeitkorsett verpasst. Mal ein größeres, mal auch ein sehr kleines, bis hin zum Moment. Am jeweiligen Ende eines solchen vorgegebenen Zeitkorsetts sollte ein Schöpfungsakt möglichst mit Punklandung ein Ende gefunden haben. 

 

 

VORBEREITUNG
So fällt in die Vorbereitungsphase zum Beispiel das Textlernen und das Kennenlernen der zu spielenden Rolle, und damit auch interpretatorische und dramaturgische Aufbereitungen. Nur durch kreatives Suchen und Finden, sowie wiederholtes Üben dieser meist erst anzueignenden Fähigkeiten, wird es einem Schauspieler gelingen, in den immer kürzer werdenden Produktionszeiträumen, am Ende seiner Vorbereitungszeit als optimal vorbereiteter und damit gern gesehener und wertvoller Arbeitspartner für Kollegen und Regisseur in den Probenprozess einzusteigen. Ohne sich selbst zum reinen Befehlsempfänger zu degradieren - oder zum zeitfressenden Dauerdiskutierer.

PROBEN
Dann kommt die schönste und meist auch schwerste Phase, die Probenzeit.
Worum geht es? Im letztendlich Darzustellenden findet sich eine Flut von Momenten, die manchmal weit auseinander liegen auf der Zeitachse, manchmal aber auch ganz dicht aufeinander folgen, Momente der Gedanken, Emotionen und Handlungen, die in ihrer Wahrhaftigkeit kreativ gefunden sein wollen. Dass also nicht nur Klischees und verallgemeinernde Typisierungen gesucht und gefunden werden, die die individuelle Leistung im weiten Feld der Beliebigkeit untergehen lassen, sondern eben ganz persönliche Charakterisierungen dieser Gedanken, Emotionen und Handlungen, persönlich in Aussehen, Größe und Umfang.
Oder anders formuliert: Es geht darum, Moment für Moment durch die eigene Kreativität für die gewollte schauspielerische Umsetzung so zu suchen und zu finden, dass sich eine Abfolge von augenblicklichen, wahrhaftigen Ereignissen ergibt, die, von allen Beteiligten aneinandergereiht und zusammengefügt, ein immer aktuell durchlebtes Bühnengeschehen ergeben.

Damit dies auch verlässlich so, und nicht beliebig, passiert, muss der Schauspieler sich mittels seiner kreativen Fähigkeiten und seines Fleißes im wiederholten und wiederholten Probenprozess so weit bringen, dass jeder Moment jederzeit wieder exakt abrufbar ist, abrufbar so, wie er ihn in sich gefunden und gemeinsam mit Kollegen und Regisseur für gut befunden hat.
Das heißt, der Schauspieler muss die Momente voll und ganz beherrschen, nicht die Momente ihn.


REPRODUKTION
Derart vorbereitet kann der Schauspieler in die Vorstellungen gehen. Oder zum Dreh. Und kann für 1 Vorstellung sein exakt Vorbereitetes reproduzieren, oder für 100 Vorstellungen. Oder eben auch für 1 Klappe beim Dreh oder die 100ste. Vorausgesetzt, er hat seine Kreativität darin geschult, wie er zu jeder Zeit, unter welchen Rahmenbedingungen auch immer, seine Probenergebnisse zum Leuchten bringen kann. Denn es ist wahrlich ein Teil seiner Kunst, Privates, sei es psychischer oder physischer Natur, aus dem Reproduktionsprozess heraushalten zu können. Denn das Leben ist nun Mal eine unnachgiebige Abfolge von Ereignissen. Es passiert immer irgendetwas. Doch nicht immer können wir dies als Privatperson einfach so wegstecken. Und doch darf es das Arbeitsergebnis nicht beeinflussen und nicht verfälschen. Eine hohes Maß an Konzentration(sfähigkeit) und eine nie endende Kreativität, diese in allen Lebenslagen zu erreichen, muss deswegen ein unabdingbares Ziel für einen Schauspieler sein.

SELBSTWAHRNEHMUNG
Darüber hinaus muss er seine Selbstwahrnehmung unablässig schulen. Denn im Gegensatz zu den Kollegen, dem Regisseur und den Zuschauern, sieht der Schauspieler ja nicht was er tut und wie er es tut. Um sich hier aber zu weiten, sind die ersten angesprochenen Schritte, die ihn sein Tun beherrschen lassen, erneut unabdingbar. Denn nur so kann er ein Bewusstsein entwickeln für die geistigen und emotionalen Prozesse, die ihn durchlaufen, für Aussehen und Wirkung seiner körperlichen Mittel, Mimiken, Gestiken – und, last but not least, seiner Stimme, seinem stimmlichen Ausdruck. Nur so hat er ein immer aktuelles und wahrhaftes Empfinden all seines Tuns; nur so kann er jedwede Kritik an eben diesem Tun auch in einer kreativen Veränderung des Getanen umsetzen. Und zwar schnell. Sehr schnell. In Zeiten des maximalen Profitdenkens eine nicht zu unterschätzende Fähigkeit, die sich durchaus auch finanziell auswirken kann.

HANDWERK & METHODE
Was also kommt bei einem professionellen Schauspieler zusammen?
Zum einen der gut geschulte Körper, dessen Grenzen man kennt und den man jederzeit wahrnimmt, damit die Grenzen nie (schmerzhaft) überschritten werden und er selbst sich absolut dem Willen des Schauspielers fügt.
Und zum andern eine gut geschulte Stimme, sowie Sprache, die, jederzeit kontrolliert, in ihrer inhaltlichen und emotionalen Wirkung exakt geführt werden kann, ganz nach dem eigenen Willen. So dass man – ganz nach dem Motto: Alles auf der Bühne ist Text! – seine Darstellung jederzeit ganzkörperlich, gezielt und bewusst auf das Maximum der gewollten Verständlichkeit und Expressivität führen kann. Dies lässt sich unter dem Begriff Handwerk zusammenfassen, das er möglichst perfekt beherrschen sollte.

Zum anderen ist da die Methode, wie man alles Nicht-Handwerkliche, also das Mentale, das Emotionale, das Imaginäre immer wieder auf den berühmten Punkt bringt. Offizielle Methoden gibt es schon lange. Doch haben wir uns angewöhnt nur die zu verwenden, die seit Stanislawski das Licht der Welt erblickt haben. Ob nun eben seine, oder die

Strasbergs, Grotowskis oder Michael Chekhovs, um nur einige der berühmten zu nennen – letztendlich muss jeder Schauspieler individuell herausfinden, mit welcher Methode er ans Ziel kommt. Denn ob nun von großen oder kleinen Theaterlehrern, die Methode kann nur ein Vorschlag sein. Ob man sie mag oder nicht, ob man mit einer anderen Methode besser und leichter ans Ziel kommt, ob man effizienter von außen nach innen oder von innen nach außen arbeitet oder mit einer Mixtur arbeitet, das muss jeder Schauspieler für selbst herausfinden.
Sie muss am Ende aber einfach bestimmte Dinge leisten können. Man muss die Fähigkeit erlangen, immer in der Szene zu bleiben, nicht auszusteigen. Die Fähigkeit, die Rollenfigur möglichst facettenreich, also lebendig zu kreieren. Die Fähigkeit, die Umwelt nicht auszublenden, sie wahrzunehmen wie sie ist, sich aber ihr gegenüber so zu verhalten, wie sie sein sollte. Und die Fähigkeit, sich in der Rollenfigur so verhalten zu können, dass bestimmte Änderungen von Außen zu rollenzugehörigen und nicht privaten Änderungen im Innern führen.


FAZIT
Egal also, ob eine Methode von von außen nach innen arbeitet, oder umgekehrt: Ziel des professionellen Darstellers muss stets sein, dass eine Änderung im (äußeren) Ausdruck sofort eine Veränderung im Innern und eine Änderung im Inneren sofort eine Veränderung im (äußeren) Ausdruck bewirkt.

Das Handwerk und die individuell gefundene Methode perfekt beherrschen. So die Antwort.

© Jürgen M. Brandtner - 16.07.2016