EIN JAGDSTÜCK

Der Alte Wolf saß da mit hochgezogenen Lefzen. Würde man ihn, abstruse Vorstellung dies, vermenschlichen, könnte man sagen, dass ihm ein breites Grinsen im Gesicht hing. Denn ja, die Jagd, die er anzuleiten gehabt hatte, war nun erfolgreich beendet, sein Rudel aus Jungwölfen hatte den schrecklichen Tardjöh erbarmungslos gejagt und am Ende erfolgreich gestellt. Und nun lagen sie alle satt in der Sonne und streichelten sich in Siegerlaune ihre Bäuche.

 

 

 

Doch während die Jungen sich noch ausgiebig streichelten, überzogen nachdenkliche Züge das Grinsen des Alten. Haben die Jungen auch das Richtige dabei gelernt? Haben sie, wie beabsichtigt, profitiert? - Was war passiert?

 

Mama Wolf, die dringend eine Auszeit von den Jungen brauchte, übergab diese, vor einigen Monaten schon, dem Alten mit der Bitte, er möge ihnen das Jagen beibringen. Eigentlich ein Job, den der Alte leidenschaftlich gerne übernahm. Aber von Saison zu Saison traf der Alte auf mehr und mehr Jungwölfe, die davon überzeugt waren, dass entweder sie selbst das Jagen nicht mehr lernen müssten, schließlich läge es in ihrer Natur, oder dass er vom Jagen nichts oder nicht genug oder nichts mehr verstünde, denn schließlich sei er ja nun alt und das Jagen habe sich verändert und er sei nun mal old-fashioned und wüsste nicht mit der Zeit zu gehen, aber sehr wohl sie, die Jungwölfe. Dennoch übernahm er diesen Job auch dieses Mal.

 

Zunächst streifte der Alte Wolf tagelang durch die Gegend, auf der Suche nach einem passenden Jagdobjekt. Eine Suche, die sich als sehr diffizil herausstellte, da das Rudel sich sehr eigenartig zusammensetzte: 12 Jungwölfinnen und 2 Jungwölfe nur. Doch es sollte ein jedes Tierchen auch zu seinem gebührenden Pläsierchen kommen. Da erinnerte er sich schließlich, als er einmal bei Vollmond auf einem kahlen Fels saß und an andere Zeiten dachte, dass er einst in einem Wolfstraktat von einem Tardjöh gelesen hatte, und er suchte eine seiner alten Höhlen auf, um nach den davon handelnden Wolfsblättern zu schauen.

 

Der Tardjöh. Auch Tardjö und Tardieu. Ein beinahe ausgestorbener Göttlicher vorgerückten Alters, der sich gerne der Gedanken seiner Gegner bemächtigte und sie auf diese Weise zu absurd-grotesken Handlungen verleitete, mit zwei Herzen versehen, die sich dauerhaft suchten, zehn abstrakt angeordneten Gliedmaßen undefinierten Aussehens, sowie zwei penisartigen Wucherungen, deren Abmesssungen vom Mikro- bis zum Makrobereich variieren konnten. Ein Einfangen und Zähmen erwies sich als nicht möglich. Jedoch konnte der Gegner nach erfolgreicher Jagd durch den Verzehr der Weisheiten, die der in Agonie versetzte Tardjöh ausschied, profitieren.

 

Dies schien dem Alten Wolf sehr passend. Und er überquerte in sechsdreiviertel Tagen fünfdreiviertel Berge, durchquerte dabei vierdreiviertel Täler und dreidreiviertel Flussläufe, schlief unterdessen zweidreiviertel Mal eindreiviertel Stunden - und fand dann auf einer papiernen Lichtung nulldreiviertel Weisheitslosung. Was den Schluss nahelegte, dass just in dieser Region die unzweifelhafte Chance bestehen würde, unter Zugabe wenigstens eines Viertels eigener Weisheit zur Losung, einen ganzen Tardjöh in freier Wildbahn zur Musenstrecke zu bringen.

 

Und nachdem der Alte Wolf wenigstens ein Viertel eigene Weisheit, bestehend aus Wissen, Erfahrung und Intuition, auf der vorgefundenen Losung ausgeschieden hatte, lief er zurück und führte das Rudel Jungwölfe nach ebendort.

 

Zu Beginn der Jagd konnte der Alte noch ein gewisses Maß an Begeisterung erkennen, wohl vor allem weil die Jagd Abwechslung im sonst eher tristen Rudeldasein bedeutete. Und die ersten Übungen und Vorgaben, die ohne eigenes, kreatives Zutun, einzig durch Reproduktion von Alltagserprobtem zu erledigen waren, erledigten die Jungwölfe prompt und ohne Murren. Doch bedeutete dies nur wenig mehr als das Abstecken des Terrains, in dem der Tardjöh gefunden werden sollte. Findbar hingegen war zu diesem Zeitpunkt noch alles. Selbst eine Serroh, eine Hasehase. Doch was sollte ein ganzes Rudel damit? Nein, es galt nun die Mittel zu präzisieren mit denen die einzelne Jungwölfin und der einzelne Jungwolf auf die Pirsch gehen sollte. Und dazu musste jeder und jedem von ihnen zunächst eine genaue Aufgabe zugewiesen werden.

 

Den beiden männlichen Jungwölfen kam die Aufgabe zu, die penisartigen Wucherungen des Tardjöh gegen die weibliche Übermacht im Rudel zu verteidigen, aber auch in Schach zu halten, mochte geschehen, was wolle. Zwei besonders wach scheinende Jungwölfinnen bekamen die Order, bei Auffinden des Tardjöhs dessen Herzen zu sichten, einzeln zu stellen und unnachgiebig aufeinander zuzutreiben, so nötig, mit all den ihnen zur Verfügung stehenden weiblichen Mitteln der Verführung. Und das restliche Rudel sollte sich um die kaum fassbare, zehnfache Abstraktion des körperähnlichen Etwas kümmern, das dem Tardjöh, je nach Zugriff, dieses oder jenes Aussehen verleihen, diesen oder Inhalt mitgeben, diesen oder jenen Glanz verpassen konnte.

 

Gerne hätte der Alte Wolf sich an diesem Punkt seiner Erinnerungen ein paar vergorene Äpfel auf der Zunge zergehen lassen; wusste er doch um deren berauschende Wirkung. Doch gab es nur noch ein paar Lemminge mit grünen Bohnen am Spieß, von denen er sich einen mit wenig Lust hinter die Reißzähne schob. Dann trabte er einsam durch die Nacht.

 

Ja, die zugewiesenen Aufgaben. Hier begann die Jagd zur Arbeit zu werden. Nur ein unnachgiebiges Vervollkommnen der jeweils dafür benötigten Kenntnisse konnte sie im Einzelnen so weit in ihren Fähigkeiten voran bringen, dass eine jede und ein jeder sich blind auf den Rest im Rudel verlassen konnte. Und nur mit absoluter Präzision im Vorgehen und einem exakten Pfote-in-Pfote-Arbeiten würde man den Tardjöh lokalisieren, einkreisen, zum Glanz im Mondlicht bringen und in vorübergehende Agonie versetzen können. Nur so ließ sich vermeiden, dass man womöglich stattdessen einen Öschähn aus dem Bau trieb, wunderschön anzusehen in den spiegelnden Wassern gesammelter Stuhlzähren, wundervoll anzuhören in den rauschenden Blutungen geknackter Mietermuscheln, aber eben ein Öschähn und kein Tardjöh.

 

Arbeit also. Und kein Spiel mehr. Auch keine andauernde Wolfsparty, auf der man sich durchheulen und durchkläffen und durchknurren konnte, auf der man einmal um diesen Baum und einmal um jenen Strauch streichen konnte, auf der man auch mal fehlen konnte, weil es dabei eh jedem egal ist, wer gerade mitfrisst und mitsäuft, solange es nur nach Party aussieht und riecht und schmeckt und jeder für ein paar Stunden sowieso einfach nur toll ist. Nein. Arbeit. Und hierfür, erinnert sich der Alte Wolf, hatte nicht ein jeder Jungwolf Verständnis.

 

Dies war der Zeitpunkt, zu dem sich der Alte Wolf gezwungen sah, nachts, wenn alle schliefen, mit der Losung des Tardjöh intensive Zwiegeheule zu führen. Was alles konnte auf der Jagd unterlassen werden, welcher Geradenocheinsatz wäre möglich, dass sich der Tardjöh dennoch als Tardjöh zeigen würde, nicht so schillernd, nicht so tief wie bestenfalls, aber eben noch erkennbar als Tardjöh? Und der Alte vereinfachte die Jagd. Bis seine Erfahrung, sein Wissen und seine Intuition ihm sagten: Stopp!

 

Und das Rudel der Jungwölfe? Zu viele wollten immer noch nur spielen und nicht beißen. Manche wurden sogar lethargisch, auch von denen, deren Jagdtechnik und Jagdinstinkt und neu erworbenen Jagdfähigkeiten er nicht müde geworden war zu loben. Und unter den feierlaunigen Jungwölfen gab es dann sogar welche, die sich offen gegen ihn stellten. Dies machte den Alten Wolf krank. Er brach zusammen.

 

Alles hatte er unternommen, was er zu unternehmen gewusst hatte, alles und sich selbst hatte er ins Rudel eingebracht. Manch anderes Rudel hätte damit schon längst den Tardjöh gestellt. Doch hier zeigte sich dem Alten weiterhin Finsternis. Und Krankheit. Und er schleppte sich müden Herzens und mit weher Seele in seine Höhle und ließ sich für eine Nacht und einen Tag und wieder eine Nacht nicht mehr sehen.

 

Der Alte bellte die Wand seiner Höhle an. Ohne Unterlass. Bis er heiser war und nicht mehr bellen konnte. Dann schickte er all seine diffusen Gedanken zum Mond, zum Mond, zum Mond, in der Hoffnung, der würde sie ihm gebündelt zurückschicken. Doch weit gefehlt. Nur die Liste der Mondsümpfe wurde um einen erweitert: Palus Lupi, 20° 18′ 0″ N, 15° 12′ 0″ O. Oder rechts davon. Oder links?

 

Als er schon aufgeben wollte, erschien hinterm Mond Urania, die Muse der Astronomie, die sich ob der plötzlichen Bereicherung ihrer Kunst geschmeichelt fühlte und sprach zum Alten: „Hör! Palus Lupi, das gefällt mir! Zum Dank schicke ich meine Schwestern morgen früh los, oder übermorgen, spätestens aber zum Wochenende. So sie verfügbar sind. Oder nicht sogar Schaden anrichten würden. Lass sehen. Klio - die ist gerade in Syrien. Kalliope - das wäre mit Kanonen auf Spatzen schießen. Polyhymnia - hat gerade ihre Leier gegen ein Drumset eingetauscht. Und Erato - wer braucht sie nicht. Also, pass auf, die restlichen vier, Melpomene, Terpsichore, Euterpe und Thalia, die schicke ich dir alle vorbei. Die sind wie die vier Muskekatzen. Und werden deine Jungwölfe schon noch hoch bekommen. Na denn! Toi toi toi!“ Und verschwand wieder hinterm Mond.

 

Der Alte Wolf lag konsterniert in seiner Höhle. Alles schön und gut, dachte er. Aber Artemis, die Göttin der Jagd, wähnte er hilfreicher. Andrerseits, schoss es ihm durch seine wölfischen Sinne, ist die Jagd ja auch eine Kunst. Und die auf den Tardjöh, wie er wusste, allemal. Und guter Dinge verließ er seine Höhle und kehrte zum Rudel der Jungwölfe zurück. Noch immer krank, aber guter Hoffnung, dass all das, was er beigebracht hatte, plus ein geballter Musenkuss am Ende genügen würde.

 

Und wie die Geschichte ausging … steht an ihrem Anfang. Wie passend als dramaturgische Anweisung für ein absurdes Jagdstück.

 

© Jürgen M. Brandtner - 07.03.2016

 

 

 

GEWOHNHEITSTIER

 

Wie man dann doch
an Gewohnheiten hängt.
Nach zwanzig Jahren drängt
es einen immer noch,
nach getaner Arbeit, wenn
sie erfolgreich Abschluss fand,
sie, mit Jubel in der Hand,
lächelnd zu feiern. Denn
sie hat diese Ehre verdient.
Natürlich kann man auch
drauf verzichten. Doch im Bauch
fühlt es sich dann wie vermint
an.

 

Der Mann,

aus der Gewohnheit gesprengt,

fühlt sich aus seinem Leben gezwängt.

 

Nicht mit mir!

Hört ihr!

Feiert ihr ruhig statt der Arbeit das Spiel,

das erst folgt, und dann dessen bindendes Ende,

dessen traurigen Tod,

mit Leber und Lende

und Pizza und Bier.

Das Gewohnheitstier

in mir hat ein anderes Ziel:

Es feiert kommod,

wie eh und je

und mit ehrfürcht’gem Beben,

den Erfolg in jenem Moment,

da er am hellsten mir brennt,

lange vor dem noch kommenden Weh.

 

Kurz: Ich feier weiter das Leben.

 

© Jürgen M. Brandtner - 08.03.2016