KUNST&INDIVIDUALISMUS

Kunst im weitesten Sinne, folgt man in der internetschen Einfachheit unserer Tage zum Beispiel Wikipedia, ist allgemein „jede entwickelte Tätigkeit, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gegründet ist“; ist „das Ergebnis eines kreativen Prozesses“. Enger gefasst versteht man darunter die Prozesse bzw. Ergebnisse gezielter menschlicher Tätigkeiten, „die nicht eindeutig durch Funktionen festgelegt sind“.

 

Künstler sein kann also vieles bedeuten. Es bedeutet aber sicherlich, Individualist zu sein. Und das ist gut so, denn nur so bleibt die Vielfalt, das Bunte in der Kunst gewährleistet. Also ist auch jede künstlerische Arbeitsweise als Ausdruck von Individualität zu respektieren. Etwas, was in Zeiten von um sich greifendem Egoismus sicher niemandem ganz leicht fällt. Meine Arbeitsweise und meine Kunst sind selbstverständlich die richtige Arbeitsweise und richtige Kunst; deine Arbeitsweise und deine Kunst … schaun wir mal, ob sie mir gefallen – und dann fälle ich ein Urteil … mit Allgemeingültigkeit. So weit, so schlecht.

 

Doch zurück zum Individualisten. Das ist ein Mensch mit einer ganz bestimmten Geisteshaltung, dem es egal ist, egal sein muss, ob seine eigenständigen Entscheidungen und Meinungsbildungen gesellschaftlich konform sind oder nicht. Beim Künstler entschärft sich dies ein wenig, weil sein Wertesystem, innerhalb dessen er Individualist sein will und muss, nicht das gesamtgesellschaftliche, sondern das seiner Kunst ist – und er, zumindest in manchen Bereichen der Kunst, durch seine individuelle Kunst den gesellschaftlichen Kollektivismus wieder anstrebt.

 

Will sich jemand also der Kunst verschreiben, so sollte man ihm doch, außer den handwerklichen Notwendigkeiten, vor allem den Weg zur Individualität zeigen und ebnen. Denn nicht in jedem Menschen ist diese Geisteshaltung gleichermaßen ausgeprägt. Doch was wir wollen und brauchen, sind individuelle Künstler, damit die Kunst nicht auf der Stelle tritt, sondern die Möglichkeit bekommt, sich weiter zu entwickeln. Damit stellt sich aber auch sofort die Frage nach dem Wie. Doch lässt sich diese Frage – allgemeingültig – überhaupt beantworten? Wohl kaum. Da der Weg zur Kunst ja zumeist von Künstlern vermittelt wird, also von Individualisten, von denen jeder, hoffentlich, seinen ganz eigenen Weg vorschlägt – der im Übrigen zunächst einmal genauso gültig ist, wie jeder andere von einem anderen Künstler vorgeschlagene Weg, und damit seinen individuellen Respekt verdient.

 

Aber man kann auf Einzelbeispiele blicken.

 

Stellen wir uns eine junge, angehende Schauspielerin vor, die sehr begabt ist, aber nicht so recht daran glaubt. Mit ihrer Begabung zu pokern, will heißen, ihr immerfort zu sagen, mach mal, du bist begabt, du machst das schon … wird ihr wahrscheinlich nur wenig bringen. Denn wer nicht an sich glaubt, wird sich kaum ausprobieren – Talent hin oder her. Ihr nun aber Fremdausprobiertes bzw. Fremdvorgedachtes aufzuoktroyieren, wird kaum ihre Individualität stärken. Interessanterweise funktioniert aber ganz gut der Rückzug ins Kindliche. Wärst du noch Kind, wie würdest du, was du spielen möchtest, spielen? Und plötzlich wird sie ausprobieren. Wird sich eine Welt schaffen, eine Bühnenwelt, eine Kostümwelt, eine Requisitenwelt. Denn wollen will sie ja. Und ihr Spiel wird individuell werden durch die Wiederentdeckung des Kindes in sich, durch die Entfernung des Drucks, den das Erwachsensein, unsere reglementierte Welt ausübt. Und erkennend, was und wie und womit sie spielen möchte, wird sie, frei, auch noch ihr Talent hinzuziehen und das gefundene, individuelle Spiel mit wahrem Leben, mit aufrichtiger Emotion, mit Seele füllen.

 

Stellen wir uns eine zweite junge, angehende Schauspielerin vor, die weniger begabt ist, als die erste, aber stärker glaubt, dass sie begabt sei. Der stärkere Glaube an sich wird sie stärker ausprobieren lassen. Da sie aber weniger begabt ist, ist die Wahrscheinlichkeit des Rückzugs auf die Welt desBühnenbilds, des Kostüms, der Requisite deutlich erhöht. Sie wird sich mit Leidenschaft jedes Mal eine neue Welt kreieren, in die sie ihren Text stellt, aber eben noch nicht ihre Rolle. Ihre kindliche Gestaltung wird deutlich leerer bleiben – aber durchaus individuell. Da es hier um das Letztere geht, soll dies soweit genügen.

 

Beiden Beispielen gemein ist, dass sich die Kreativität und das Finden der Individualität fest macht an der Möglichkeit, sich eine beliebige Bühnenwelt zu schaffen. Nur wenn Talent und Glaube ans eigene Talent gleichermaßen stark entwickelt sind, wird sich wohl ein individueller Weg von innen heraus einstellen können, der nicht primär nach der Bühnenwelt schreit, sondern diese nach und nach aus den (seelischen) Notwendigkeiten der Rolle definiert. Dennoch: Auch hier steht am Ende der Findung des individuellen künstlerischen Prozesses, des individuellen künstlerischen Ergebnisses, gleichfalls der wahlfreie Zugriff auf alles, was zur Nachbildung der künstl(er)i(s)chen Welt nötig ist.

 

Oder anders: Individualität lässt sich wahrscheinlich erst dann entwickeln, wenn man alles tun und nutzen kann, was einem in den Sinn kommt. Wird einem diese Möglichkeit verwehrt, sei es durch finanzielle Schranken, sei es durch menschliche Schranken, wird der künstlerische Ausdruck, das künstlerische Ergebnis stets nur ein angepasstes, nicht-individuelles sein. Ein Abziehbild von Fremdgefertigtem, Fremdvorgegebenem, schon Vorhandenem und Wiederverwertetem unter dem Vorzeichen der Fremdbestimmung; im besten Fall ein Teil-Individuelles.

 

Auf Schulen und Lehrer im Bereich Schauspiel Bezug nehmend bedeutet dies nach meiner Auffassung: Wenn hier, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln auch immer, die freie Schaffung neuer Welten eingeschränkt wird / werden muss, darf man sich nicht wundern, wenn überwiegend wenig originelle, wenig individuelle Schauspieler/innen heranwachsen, die sich, handwerklich vielleicht hervorragend ausgebildet, letztendlich eben doch nur als Schauspielmarionetten in ihr Gewerbe einfügen können. Ein Gewerbe, das im Untergehen über seinen Untergang tagtäglich lamentiert, in einer Zeit der sanktionierten Abziehbilder, die mehr und mehr das Interesse der Zuschauer verlieren, weil das Beste, das sie bieten könnten, ihr individueller Ausdruck, kaum mehr zu finden ist. Doch Kunst, auch die des Schauspiels, muss im besten Fall von Individualisten gemacht werden, damit das Kollektiv daran Interesse hat, davon profitieren kann.

 

© Jürgen M. Brandtner – 12.01.2016