Künstler hängen für eure Zukunft

Irgendwas mit Kunst. Diese Menschen hatten sich in exotischer Umgebung ein Camp geschaffen, in dem sie kreativ werden und ihre Kunstwerke unter sich zur Diskussion stellen wollten. Der alte Gedanke einer Künstlerkommune war entflammt. Wozu auch das Rad immer wieder neu erfinden?


Das exotische Umfeld des Camps war wie ein Traum. Und die ersten Wochen ihrer Arbeit schwebten dahin in vollster Harmonie und mit unglaublicher Produktivität. Allein der nicht einsetzen wollende Regen bereitete ihnen, die sie sich mit eigener Landwirtschaft selbst verpflegen wollten, etwas Verdruss. Die Nutzpflanzen und Früchte wuchsen kaum; und die Tiere waren in weniger ausgetrocknete Gegenden weiter gezogen. Der Hunger war abzusehen.


Ähnlich erging es natürlich den Einheimischen in dieser Gegend. Zwar hatten diese einige, um die Misere hinauszuzögern, aber irgendwann kam auch bei ihnen der Moment, da der Hunger da war. Sie erinnerten sich widerwillig und mit einiger Abscheu der anthropophagen Vergangenheit ihrer Urväter. Doch als endlich kein Weg mehr daran vorbeizuführen schien, beschlossen sie, dass, wenn schon, die Künstlergruppe hierzu herhalten sollte. So ließe sich wenigstens Unedles mit Edlem paaren. Was vor einem etwaigen Gericht am Tage X sich dann hoffentlich zu ihren Gunsten auswirken würde.


Die Künstlergruppe sollte darüber jedenfalls einigermaßen überrascht sein. Zwar gab es schon immer Kunst, die die Menschen gefressen hatten, oder Kunst, die die Menschen verschlangen. Doch war dies bisher metaphorisch zu verstehen gewesen. Dass sie selbst nun in bitterer Realität davon betroffen sein sollten, war eindeutig ein Novum in der Geschichte der Kunst.

Ganz wichtig, so stand es in den alten Handbüchern über Kannibalismus, sei das Räuchern des noch lebenden Nahrungsmittels. Müsse bei diesem in erhöhtem Maße von Gottlosigkeit ausgegangen werden, so empfahlen die Alten, auch wenn die Nahrung schlussendlich einen etwas eigentümlichen Geschmack haben würde, unbedingt Weihrauch zu verwenden. Auch wenn die Einheimischen dies natürlich nicht mit Sicherheit über die Künstler zu sagen wussten, gab ihnen aber ihr Gefühl ein, dass es keinesfalls schaden könne. Lieber sollte das Essen nach katholischem Hochamt riechen, als dass sie verhungern müssten.


Also wurden die Künstler in einem Elfenbeinturm zusammengetrieben. Man nannte sie fortan nur noch die „Gruppe“. Oder, im auf Englisch zu führenden Kochtagebuch, die „Community“. Der Älteste der Einheimischen erläuterte ihnen in einfachen Worten die Sachlage. Die „Gruppe“, wie gesagt überrascht, verstand. Und nicht nur dies. Der „Gruppe“ wurde zugleich auch bewusst, dass sie hier zum ersten Mal in ihrem Leben nicht nur einen rein künstlerischen Entwurf fürs Überleben der Gemeinschaft schaffen, sondern dass sie, weit über jede theoretische Utopie einer zukünftigen, besseren Welt hinaus, diese im Werdensprozess aktiv begleiten und beeinflussen konnten. Sie waren völlig begeistert und baten sich eine kurze Bedenkzeit aus, um sich beraten zu können, wie sie sich am effektivsten in diesen schöpferischen Akt einbringen könnten.


Den Einheimischen war dieses Entgegenkommen sehr angenehm. Sie ließen die „Gruppe“ zunächst für sich und schleppten einstweilen säckeweise Weihrauch herbei. Dann wurde der Elfenbeinturm verkabelt. Videokameras und Mikrofone sollten die späteren Vorgänge für die Nachfahren genauestens dokumentieren. Eine Hängevorrichtung wurde von oben herabgelassen. Die feste Bodenplatte wurde seitlich herausgezogen, so dass die Insassen des Elfenbeinturms auf einem Rost zu stehen kamen. Und im Kellerschacht unter dem Turm wurde eine riesengroße Schale aufgestellt, in der der Weihrauch verbrannt werden sollte. Dann ging man zurück zur „Gruppe“.


Ein kurzerhand zum Moderator der „Gruppe“ erklärter Künstler richtete das Wort an die Einheimischen. Vom Grundsatz her sei sie, die „Gruppe“, hoch erfreut, wenigstens ein Mal in ihrem Künstlerdasein etwas wirklich Gesellschaftsrelevantes tun zu können. Da sie, die „Gruppe“, dem wesentlichsten Teil aber nicht mehr lebend und bei Sinnen beiwohnen würde, hätte man sich überlegt, wie man auf dem Weg dahin einen maximalen Beitrag leisten könnte. Und sie, die „Gruppe“, sei zu dem Resultat gekommen, dass sie selbst, ohne Jammer und Klage, den Akt des Räucherns an sich vollziehen wolle, ja, müsse. Denn nur so wäre es für sie, die „Gruppe“, zugleich ein Akt der Reinigung, der Katharsis, von der ein Teil der Kunstschaffenden schon ach so lange gesprochen, sie aber nie selbst durchexerziert hätte.


Den Einheimischen wollte dies recht sein. Sie bereiteten alles vor und ließen die „Gruppe“ dann wieder im Elfenbeinturm allein. In Wort und Tat wurden die Mitglieder der „Gruppe“ nun kreativ und innovativ, wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie schufen in rasender Eile Kunstwerke nie erfahrener Größe in ihrem Elfenbeinturm - die nur leider nie mehr von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden würden. Und sie entzündeten die Schale und es begann ein kultischer, beinahe religiöser Akt der Selbstbeweihräucherung. Der Rauch stieg auf, zog weihevoll durch den Bodenrost und umspülte engelsgleich die einzigartige, überlebensgroße Installation „Künstler hängen für eure Zukunft“. Ein strahlendes Lächeln floss aus dem Elfenbeinturm in die Weiten der Phantasie.


Und die Einheimischen standen auf dem großen Platz vor dem Turm, sahen das Strahlen in die Unendlichkeit fließen und den weißen Rauch ihres Überlebens aufsteigen. Habemus vita nova.


© Jürgen M. Brandtner - 22.10.2014