Pas de deux

Eine Lesung ist eine Lesung ist … dann doch etwas anderes. Zumindest wenn man es gewohnt ist, die Lesung alleine zu halten und dann zum ersten Mal Unterstützung bekommt. So geschehen.

Noch während sie sich an der Schauspielschule, an der ich unterrichte, in der Ausbildung befand, keimte in mir der Gedanke: Mach doch mal etwas gemeinsam mit Laura. Klar, erst wenn sie die Schule beendet hat. Nicht, dass es irgendwelche Eifersüchteleien gibt, Gerüchte des Bevorzugens entstehen. Gestern war es dann soweit.

Als Beitrag zum „Sommer der Ver-Führungen“ im Landkreis Göppingen, in unserem Fall veranstaltet von Manuela Kinzel und Rüdiger Wolff vom Manuela Kinzel Verlag, bei dem mein Buch „Meine Tante im Keller - Schwarzhumoriges über den Umgang mit Humanmaterial“ erschienen ist, fanden Laura und ich uns um 17 Uhr in Hohenstaufen ein. Um 18 Uhr folgte dann die literarische Wanderung von den Friedhöfen hoch zur Burg Hohenstaufen und wieder runter in den Ort zum Verlag, vor dem uns ein Leichenwagen erwartete. Und wie schön: In Begleitung einer interessierten Vertreterin der lokalen Presse.

Zwanzig Zuhörerinnen und Zuhörer, wobei, wie fast immer bei Lyrik, die Frauen in der Überzahl waren, hatten sich eingefunden. Das klingt vielleicht nicht nach viel, ist aber für eine solche Veranstaltung grundsätzlich schon mal nicht schlecht, und wenn man bedenkt, dass wir beabsichtigten Lyrik zu lesen, sogar recht gut besucht.

Lyrik, dieses wundervolle literarische Genre, für dessen Wertsteigerung ich seit vielen Jahren durch die Lande ziehe, Lyrik, dieses Minderheiten-Genre, Lyrik, diese Literatur für alte Menschen. Denn in der Tat ist das Durchschnittsalter bei Lesungen mit Lyrik ein sehr hohes. Mir scheint, irgendetwas müssen unsere Schulen hier grundsätzlich falsch machen, dass bei jungen Menschen so wenig Interesse an dieser Perle der Literatur besteht. Und leider bin ich außerhalb meines Wohnortes nicht so bekannt, dass mein Name selbst die Menschen zu den Lesungen zieht. Vom regelmäßigen Feedback zu meinen Lesungen ausgehend, wüsste ich wohl auch die jungen Menschen für die ungeliebte Lyrik zu begeistern.

Oder ist es gar nicht die Lyrik selbst? Ist es die Kunstform der Lesung, die aus der Mode gekommen ist? Steht man dem Vorlesen mit Geringschätzung gegenüber? Weil man das ja schließlich auch selbst könne? Lesen. - Kann man es denn wirklich? Vor einer Lesung an einem Gymnasium vernahm ich einst die Aussage eines Schülers, dass er das total doof fände, dass jetzt gleich einer was vorlesen würde, was er ja bereits im Unterricht selbst hatte lesen müssen. Lächelnd ging ich in die Lesung. Hinterher gehörte er zu denen, die mir versicherten, jetzt zum ersten Mal den Text wirklich verstanden zu haben. - Also nochmal: Kann man denn wirklich noch lesen? Reicht die Imaginationsfähigkeit der Menschen heute noch dafür aus? Vor allem die der jungen Menschen? Schließlich wachsen sie im Zeitalter der Illusion auf. Das Kino arbeitet zum größten Teil an der perfekten Illusion. Die Computerspiele ebenso. Und dann ist es auch noch das Zeitalter der Kommunikation, das uns das kommunizieren abtrainiert mittels der Medien, die uns das Kommunizieren (ursprünglich) erleichtern sollten. Eine Gesellschaft verliert ihre Ausdrucksfähigkeit, ergeht sich mehr und mehr in Kürzeln und Emoticons, unter Verzicht von Grammatik und Zeichensetzung. Wie kann man erwarten, dass die Fähigkeit z.B. einen Text von Heinrich von Kleist einfach mal so zu verstehen, noch gegeben ist? Setzt dies doch einen Wortschatz voraus, der weit über den heute gebräuchlichen hinaus geht. Setzt dies doch sinnstiftende Kenntnisse über Grammatik und Interpunktion voraus, ohne die der Sinn oftmals nicht zu erfassen ist, sich womöglich in sein Gegenteil verkehrt. - Wenn dem aber so ist, woher kommt dann die Überheblichkeit dem Geschriebenen gegenüber, woher die Meinung, dass man es ja selber lesen könne? Erfährt das Lesen und die Bewertung des Lesens nicht mehr die Bedeutung, die es einst besaß? Leider habe ich keine Kinder und kann es an deren Schulausbildung nicht überprüfen. Aber eindeutig läuft auch hier etwas nicht so, wie man es sich als Wortkünstler wünschen würde.

Doch zurück zum frühen Abend. Was von vornherein klar war, war, dass sich kein vergleichbares Ambiente einstellen lassen würde, wie dies bei einer konzentrierten Lesung zum Beispiel in einem Theater mit der schwarzhumorigen Lyrik möglich ist. Es war also auch klar, dass es für uns nicht einfach werden würde. Zwischen den Friedhöfen von Hohenstaufen begannen wir. Und tatsächlich gelang es uns die, Zuhörerschaft für unser Vortragen einzunehmen. Und doch galt es, sie auch zwischen den Gängen zu kitzeln. Jede Menge sprachliche Improvisation war also angesagt. Doch das gute Wetter und die vorab richtig ausgewählten Orte, um die Gedichte zu präsentieren, halfen enorm dabei. Und als wir das Oben erreicht hatten, die Burg Hohenstaufen, und uns allen klar war, dass es fortan nur noch bergab gehen würde, steigerte sich das Wohlgefühl, und Natur und Lyrik fanden zu einer wunderbaren Symbiose.

Und des übergewichtigen Schnaufens entledigt, konnte ich mich nun auch ganz in die Vortragskunst meiner jungen Kollegin hineinfallen lassen. Und was soll ich sagen: Laura bot eine ganz eigene, unverfälschte, spannende und faszinierende Interpretation der von mir geschriebenen Texte. Es wurde kein langweiliger Abklatsch dessen, was ich mit „ihren“ Texten sonst darbrachte, sondern ein kongeniales Neuschöpfen. Sie interpretierte. Und gab damit meiner Lyrik eine neue Daseinsberechtigung. Denn alle Literatur, die auf die Bühne will, den Vortrag sucht, legitimiert sich vor allem dadurch, dass sie wieder und wieder neu interpretiert werden und dadurch zu einem immer neuen Erleben führen kann. Und somit kann ich meiner Idee, aber vor allem Lauras Umsetzung gar nicht genug Dank sagen. Die Mitgänger waren übrigens  auch dieser Meinung. Denn jene, die den Mut fanden uns anzusprechen, gaben, inklusive der Journalistin, Laura das verdient positive Feedback.

Und mir zeigte es einmal mehr, was meine künstlerische Arbeit auch ansonsten auszeichnet: Ich bin nicht so wichtig dabei. Ich habe im Zentrum nichts verloren. Sondern mein Führen der anderen, mein ihnen ihren Freiraum lassen, mein die Gefahr des Scheiterns als Möglichkeit sehen, mein aufs Gemeinsame schielen, das ist das Wichtige. Das ist der schöne Weg. Und langfristig, wie ich überzeugt bin, auch der richtige Weg.