DAS MINDESTE

Herr Nägele hatte von seinem Freund, Herrn Schäufele, zu seinem Geburtstag eine 12-er Karte für den Golfplatz geschenkt bekommen. Herr Schäufele arbeite dort als Caddy. Er bestand auf die kürzere amerikanische Schreibweise, so schwäbisch sparsam wie er war. Jedenfalls kostete ihn diese Golfkarte nichts, war also genau das Richtige als Geschenk. Einzige Bedingung war, dass der Beschenkte mittwochs am späten Vormittag spielen musste, zwischen 11 und 12 Uhr, da zu dieser Stunde, warum auch immer, der Golfplatz am schlechtesten besucht war.

 

 

Herr Nägele konnte nicht Golf spielen. Aber geschenkt ist nun mal geschenkt. Und ein Stündchen mit seinem Freund kostenlos übers herrliche Grün zu flanieren und dabei über Gott und die Welt und all die verpassten Frauen zu sprechen, das wollte er sich nun schon gar nicht nehmen lassen. So sorgte er also stets dafür, dass er keinen anderen Termin mittwochs am späten Vormittag wahrnehmen musste. Sollte es sich aber partout nicht vermeiden lassen, so müsste dieser unbedingt auf dem Golfplatz stattfinden und Freund Schäufele würde sich dann eben auf seine Profession zurückziehen.

 

 

Elf Mal hatten sie sich diesem Vergnügen bereits ohne Komplikationen hingegeben. Der zwölfte und letzte Termin war nun bereits gebucht, als Nägele etwas wirklich nicht Vorhersehbares widerfuhr. Todtraurig setzte er alles in seiner Macht stehende in Bewegung. Und tatsächlich konnte er dieses und jenes so zurechtbiegen, dass er und Schäufele diesen letzten Termin wahrnehmen konnten. Zwölf Jahre kannten sie sich nun schon. Ihrer beider Familien hatten zwölf Mal gemeinsam Urlaub gemacht. (Selbst der plötzliche Tod von Schäufeles geliebter Frau änderte nichts daran, da dieser ihn vor der Urlaubsreise verschwiegen hatte. Eingeäschert konnte ihre Urnenbeisetzung auch bis nach dem Urlaub warten.) Beide hatten an einem Zwölften Geburtstag. Und nun sollte die Königsdisziplin folgen: eine zwölfmonatige Weltreise, die beide durch unerwartete Erbschaften - ja, ja, man war nun in dem Alter - finanzieren konnten. Und wann, wenn nicht gerade beim zwölften Termin, sollten sie die Einzelheiten wohl besprechen? Die Zwölf war nun mal ihre Schicksalszahl.

 

 

Kurz vor Mittag befanden sie sich auf dem letzten Fairway. Ihre Absicht war Punkt 12 auf dem zwölften Grün einzuputten. Die Weltreise hatten sie detailliert besprochen, insgesamt zwölf Schiffs- und Flugverbindungen herausgesucht, zwölf Orte ihrer älter gewordenen Begierden und zwölf Hotels festgelegt - und zwölf Dutzend Ausflugsziele gelistet. Ansonsten eben das Übliche: Impfungen, Travellerschecks, Kreditkarten, Reiseführer, und und und. In zwölf Wochen sollte es losgehen.

 

 

Nägele verzog den Schlag und der Ball flog ins nahe Rough, das von einer alten Natursteinmauer begrenzt wurde. Schäufele begann eifrig den Ball zu suchen. Nägele meinte, es wäre kein Unglück, wenn sie nicht Punkt 12 einlochen würden. Schäufele war aber ehrgeiziger. Er suchte und suchte, während Nägele rauchend an der Mauer lehnte und auf die andere Seite schaute. Sein Blick fiel auf eine herannahende Trauergemeinde. Jenseits der Mauer befand sich nämlich der Friedhof und in Rufweite ein offenes Grab, um das herum sich Landfrauen in Tracht gruppiert hatten. Als sie den Leichenzug wahrnahmen, stimmten sie, mit brüchig gewordenem Sopran und Alt, „Tut mir auf die schöne Pforte“ an. Elstern schwangen sich auf in den Himmel und zwei Eichhörnchen suchten das Weite.

 

 

Als die Trauernden an Nägele vorbeizogen, nahm dieser seine Golfmütze ab und verharrte im stummen Gebet. Schäufele kam mit dem Golfball in der Hand hinzu und tat es ihm gleich. Er meinte, dies sei eine sehr schöne Geste von Nägele dem oder der Verstorbenen gegenüber. Nägele stutzte. Geste? Na hör mal. Das ist doch nach drei Mal 12 Jahren Ehe das mindeste, was ich meiner Frau schuldig bin.

 

 

 

© Jürgen M. Brandtner - 16.04.2014

 

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