DIESES MAL NOCH

Die regierenden Bits mochten das Volk der Würmer nicht leiden. Wattwürmer nicht, Regenwürmer nicht. Auch keine Bandwürmer oder Lindwürmer. Keinen Wurm. Denn jeder konnte den Bits schaden. Am allerwenigsten konnten sie Bücherwürmer leiden. Denn die steckten ihre Nasen immerzu in die Geschichten anderer, also auch in ihre. Und das durfte nicht sein. Zu viele Geheimnisse galt es zu hüten, zu viele dunkle Machenschaften. Weshalb die Bits auch seit längerem nur noch mittels einer Geheimsprache kommunizierten und ausschließlich codierte Informationen austauschten.

Doch die Bücherwürmer waren, wen wundert’s, schlaue Kerlchen. Und nach ausführlicher Lektüre etlicher uncodierter Abhandlungen, auf Flohmärkten und im Antiquariat zusammengetragen, Schriften, die sich mit den Grundzügen jener geheimen Sprache beschäftigten, war es ihnen möglich, doch recht viel an verschlüsselter Information der Bits zu dekodieren. Abgründe taten sich ihnen auf.

Da gab es geheime Konten, mit denen SWB’s („sehr wichtige Bits“) das Geld der Würmer zu deren Wurmsteuerlasten an ihnen vorbei schafften.

Da gab es nicht geheime Konten, auf die die Bititiker sich unglaubliche Summen von Geldern transferierten, die sie grotesker Weise Diäten nannten, obwohl ihre Konten und sie selbst fortwährend zunahmen, während manch Armer Wurm nicht wusste, wovon er sich und seine Liebsten ernähren sollte und sich deshalb schlussendlich an einen Angelhaken hängte, eine Arme Würmin und vier Arme Würmchen auf fremdem Grund hinterlassend.

Da gab es wider besseren Wissens Pläne, bitmarode Kranken- und Renten- und sonstigen Systeme aufrechtzuerhalten.

Und es gab vor allem jede Menge detailliert ausgearbeitete Szenarien, wie man das Volk der Würmer mittels bitgesteuerter Medien ruhig stellen wollte. Bitfreundliche Nachrichtenmedien, die maximal eine Woche über weltbewegende Ereignisse, dosiert und subjektiviert, berichten sollten. Bitgewollte Unterhaltungsmedien, die täglich austesten sollten, welches Ausmaß an Dreck, in dem Würmer sich bekanntermaßen durchaus auch wohlfühlen, diese eigentlich ertragen könnten; wie sehr man Würmer also medial zumüllen könnte, so dass die Gifte dieses Sondermülls sie zwar siechend am Leben lassen, ihre ohnehin kleinen Gehirne aber gänzlich absterben lassen würden.

Und so weiter, und so weiter. Orwell und Huxley musste man sich gar nicht mehr als Buch auf dem Schwarzmarkt besorgen, Orwell und Huxley lebten schon längst. Und Shakespeare rotiert im Grab, weil es ihm nicht möglich ist, gewisse „Sturm“-Bits für immer zu löschen.

 

Die Bücherwürmer waren empört und sie beschlossen, mobil zu machen, Widerstand zu leisten. Selbstverständlich, wenn möglich, unter Zuhilfenahme der anderen Würmer, aber, wenn nötig, auch alleine. Die Bits mussten gestoppt werden. Man musste den manipulierten Datenstrom der Informationen unterbinden und wahre Wahrheiten, unkodiert, ans Licht der Öffentlichkeit regnen lassen.

 

Die Bits erkannten, welche Gefahr ihnen drohte. In einem ersten Gegenschritt wollten sie dafür sorgen, dass die bisher gültige Gewaltentrennung aufgehoben würde, es nicht mehr Bitilative, Bitikutive und Bitikative gäbe, sondern nur mehr eine selbstkontrollierte Bititive. Damit besäßen sie alle Macht. Und jedes Bit noch so schlechter Gedanken könnten sie den Würmern mittels ihrer Bitmedien oktroyieren. Die allermeisten Würmer hingen eh hilflos am Haken, da wäre es ein Leichtes. Gesagt, getan. Doch die Bücherwürmer hatten ein ausgeklügeltes „Bookwall“-System installiert und sind gegen infizierte Bitagenten, meist als einfacher, leicht zu zerstörender Wurm getarnt, bestens geschützt. Es müssen massivere Geschütze aufgefahren werden.

 

Eine Spezialeinheit, die BiTTer, kurz: TT, wird gebildet. Mit gnadenloser Härte geht die TT gegen die Bücherwürmer vor. Zeitgleich unterwandern spezielle Medienereignisse wie „Schlag den Bücherwurm“ oder „Bitland sucht den Superwurm“ oder „Wer wird Bittionär“ oder „Bitlands magerster Bandwurm“ maximal wirksam die Restintelligenz der Nicht-Bücherwürmer. Und Bittels, Chef der Bitaganda, vermittelt den derart vorbereiteten Würmern mit Reden einzigartiger Eloquenz und teuflischer Dramaturgie Tag für Tag präziseste Lügen im süßesten Mäntelchen unerkannter Wurmverachtung, so dass es nicht lange dauert, bis die Stimmung im ganzen Bitland überwiegend antibuchwurmisch ist.

 

Buchwurmläden und Wurmbuchhandlungen werden boykottiert, Schaufensterscheiben eingeschmissen, Besitzer attackiert, geschlagen, getreten, gestochen und den Haien zum Fraß vorgelegt. In der Öffentlichkeit stehende Buchwürmer werden ihrer Ämter enthoben; oder man nimmt ihnen einfach ersatzlos ihren Job weg und steckt sie in Arbeitsgärten. Ohnehin schon kranke Buchwürmer und Alleinlebende verschwinden spurlos und werden nie wieder gesehen. - Und doch: Zwar können die Bits die gut organisierten Buchwürmer dezimieren, aber unterkriegen können sie sie nicht. Immer wieder erstehen irgendwo im Bitland neue Widerstandsgruppen, die den Bits Schaden zuzufügen. Am Ende aber so gering, dass es den Bits nicht wirklich weh tut, dafür aber ein Dorn im Bit ist, der zusätzlich anstachelt.

 

Während einer fanatischen Matrix-Spielstunde - man sticht nach einer anfänglichen zerebralen Vivisektion mit verbundenen Augen mit einer digitalen Nadel in die Matrix; eine sich in Folge schließende Elektrosynapse steuert ihrerseits einen würfeligen Intentionsgenerator, der dann das Thema für den Spieleabend vorgibt: heute ist es die Apostelgeschichte - kommt einem Matrix-Fundamentalisten eine Idee. „Und nicht wenige, die Zauberei getrieben hatten, brachten ihre Zauberbücher herbei und verbrannten sie vor aller Augen.” Bücherwurmverbrennung hieß fortan das Zauberwort. Quasi abgesegnet von höchster Instanz. (Dass am Buch noch ein Wurm hing, störte keinen.)

 

Und so bereiten die Bits das große Fanal akribisch vor, während eine digitale Einbittung von Schumanns Dichterliebe ihr Treiben perverser weise begleitet. „Im wunderschönen Mai“ gibt ihnen das Datum, „Das ist ein Flöten und Geigen“ das Motto für die anschließende Feier vor. Dabei wäre „Die alten, bösen Lieder“ weitaus treffender.

 

Doch sie hatten die Rechnung ohne ein Höheres gemacht, das wohl ein Fan von Büchern als auch von der Duplizität der Ereignisse ist.

 

Die verbliebenen Bücherwürmer, unterstützt von etlichen mannhaften Regenwürmern und Wattwürmern und Bandwürmern und Spulwürmern und Lindwürmern, die alle außerordentliche Zivilcourage zeigten, sitzen zur selben Zeit an anderem Ort zusammen und lauschen einer alten Analogaufnahme desselben Werkes mit Fritz Wunderlich. „Aus meinen Tränen sprießen viel blühende Blumen hervor“ gibt ihnen Kraft; „Ich grolle nicht“ trocknet ihre Tränen, die sie wegen der vielen ausgelöschten Bücherwürmer bereits geweint hatten. Und schließlich erklingt „Aus alten Märchen winkt es“ - und eine Armee der Entschlossenen ist geboren, bereit für einen neuen Staat zu kämpfen, ihre neue Nationalhymne schon auf den Lippen:

 

Aus alten Märchen winkt es // Hervor mit weißer Hand,

Da singt es und da klingt es // Von einem Zauberland:

Wo Liebesweisen tönen, // Wie du sie nie gehört,

Bis wundersüßes Sehnen // Dich wundersüß betört!

Ach! jenes Land der Wonne, // Das sehe ich im Traum;

Und mit der Morgensonne, // Wird‘s unser Heimatraum.

 

 

 

Guter, alter Heinrich Heine. Bücherwurm. Vertriebener. Verbrannter. Kämpfer.

 

Und so kommt der Tag der Bücherwurmverbrennung heran. Die Schergen der TT raffen so viele Bücherwürmer zusammen, wie sie finden können. Männlein, Weiblein, Kindlein. Jung, alt. Schwanger, unfruchtbar. Alle ohne Ansehen und Unterschied. Sie pferchen sie auf riesigen Tiefladern 12-facher Größe und Länge zusammen, dem Protest der befreundeten Nicht-Bücherwürmer trotzend. Aus allen Himmelsrichtungen rollen Konvoys auf die Hauptstadt Bitlin zu, nicht mehr zählbare Mengen an Bücherwürmern in elektronischen Fußfesseln geladen, verfolgt und umringt vom wütenden Ringeln unzähliger anderer Würmer. Sie schieben sich millimeterweise in den Ostteil der Stadt zum großflächigen Opernplatz und kippen die Bücherwürmer dort wie Müll auf einen Haufen. Drum herum die mitleidenden Wurmfreunde. Und das Teufelchen Bittels hetzredet, die Jugend Bitlands und die Mitläuferwürmer hetzapplaudieren - und dieser frenetische Hetzapplaus alarmiert das Höhere, das bis eben lieblich schnarchend den Schlaf des Gerechten geschlafen hatte.

 

Und plötzlich ist da ein mächtiges Erdbeben und der schüchterne Mond ist blutrot. Die Glitzersterne über Bitland fallen zur Erde und alle Bits gehen in ihren Speichern in Deckung.

Da erklingt eine Posaune aus der 100.000 Watt Bitanlage und blutige Hagelkörner und Feuerbälle fallen auf Bitland herab.

Eine zweite Posaune erklingt und Bitlin versinkt brennend und mit der Stadt alle, alle, alle Bits und ihre bittreuen Verräterwürmer; nur der riesige Berg mit den Bücherwürmern und die ihn umringenden Würmerfreunde bleiben stehen. Durch Chitin und sämtliche Segmente gehende Angstschreie des Wurmvolks dringen durch die Nacht. Ein wildes Umherkontrahieren setzt ein, nicht wissend wohin. Doch immer aufs Zauberland und eine Zauberhand hoffend.

Nun erdröhnt eine dritte Posaune und ein gigantischer Stern fällt herab, fast, und schwebt brennend, wie ein liebendes Feuer, über den Bücherwürmern. Jetzt könnte das Höhere eigentlich innehalten. Aber wie so oft, wenn jemand bereits ein gutes Buch diktiert hat, sieht sie oder er vor lauter schönen Zeilen kein Ende mehr, nur noch das wachsende Gesamtwerk, das vollendet werden will, umfangreich - selbst wenn die Gefahr besteht, wie jetzt gerade, dass es zu Tode langweilt.

Und so posaunt nun also eine vierte Posaune, wodurch alle Himmelskörper, als auch die Bitscheinwerfer in den Energiesparmodus versetzt werden. Ein fahles Dämmerlicht überzieht den Augenblick.

Fünfte Posaune: Eine Invasion von Heuschrecken und Kakerlaken. Ekelhaft. Wäre mehr Licht, würden die Würmer bestimmt am liebsten auf der Stelle sterben wollen. Doch nichts da.

Sechste Posaune: …

Doch in diesem Moment hat ein besonders mutiger Bücherwurm die Verstärkerbitanlage erreicht, in Windeseile die Bedienungsanleitung durchgekaut, kein Bit verstanden - doch sinniger Weise ganz einfach die Hauptsicherung heraus gedreht. Die sechste Posaune wird somit zum Posäunchen, zur Piccolotrompete, zur Blockflöte, zum Grashalm, auf dem Kind blasen könnte, wenn es denn anwesend wäre.

Das Höhere wundert sich, weil die Verbindung plötzlich unterbrochen ist, zuckt aber nur lässig mit den Schultern, schließlich kennt er das zur Genüge: Kein Netz!, - und pfeift seine vier apokalyptischen Reiter zurück. Nun gut, ihr Würmer. Dieses Mal noch!

 

© Jürgen M. Brandtner - 15.04.2014

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