UNHEYMLICH HAMLET

Was für eine großartige, absolut eigenwillige Inszenierung von Hamlet. Viel war vom Original zwar nicht übrig geblieben. Doch jede Menge Spezialeffekte, Gesangs- und Tanzeinlagen hatten zu stehenden Ovationen geführt. Was für ein Abend. Was für eine Nacht.

 

Der Mond zeigte sich zwischen zwei hohen Tannen. Und für kurze Zeit wurde es hell. Dann verschwand er wieder hinter den Wolken.

 

Plötzlich zerriss ein unheimlicher Schrei die Nacht.

 

Die beiden Schauspieler, angetrunken auf dem Nachhauseweg von der Premierenfeier, fuhren entsetzt herum. Aber da war nichts außer dem Totenacker und einem offenen Grab. Ansonsten nur Stille.

 

Doch nach ein paar Sekunden hallte es wieder. Und ein schreckliches Echo, wie ein ersterbendes Lachen, flatterte durch die Nacht.

 

In nüchternem Zustand glaubten beide nicht an Untote oder Geister. Höchstens an die des Theaters. Aber jetzt? Auf dem Friedhof, inmitten der Gräber? (Eine Abkürzung, die sie schon zig Mal nach Vorstellungen genommen hatten.) Heftige Zweifel begannen an ihnen zu nagen.

 

Dann hörten sie schlurfende Schritte in der Finsternis. Erst rechts von ihnen, dann links. Dann entfernten sie sich wieder. Und während die beiden sich mit weit aufgerissenen Augen anstarrten, erklang aus der finsteren Nacht erneut der langgezogene Schrei des Todes. Kein Zweifel. Der Schrei kam aus dem offenen Grab. Dann wieder das zitternde Echo - und erneut, welch unpassender Text nun, Totenstille.

 

Die beiden begannen mit zitternden Gliedern orientierungslos umher zu kriechen, bis sie, gleichsam magnetisch angezogen, ungewollt das offene Grab erreichten. Mit sehr langen Hälsen starrten sie hinein - auf ein schwarzes Etwas in der Grube, über dessen Schläfen dünne, weiße Haare flatterten. Darunter starrten aufgerissene, glasige Augen eines fahlen Gesichts in den Himmel. Und eine schwarze Feder schwebte schaukelnd hin und her.

 

Panisch sprangen sie auf. Der eine flüchtete sich hinter einen Grabstein und der andere suchte hinter einer Friedhofsbank Schutz. Sie schwiegen. Warteten. Aber es geschah nichts. Und doch rührten sie sich nicht, wussten sie doch, es war da und belauerte sie. Wie ein unsichtbarer Drache, der mit seinen zitternden Fingern nach ihren Herzen tastete und seinen heißen Atem über den Acker der Toten ausbreitete.

 

Nebel zog auf. Auf ein Mal hörten sie ein leises Rauschen. Aus dem offenen Grab schwebte die schwarze Feder empor. Sie wollten ihre Augen schließen, aber es gelang ihnen nicht. Sie waren nicht mehr Herr über ihre Willen. Die schwarze Feder näherte sich dem, der sich hinter der Friedhofsbank versteckt hatte und seine Hände nun wie wahnsinnig in die Holzlehne krallte. Spreißel drangen ihm ins Fleisch, Blut quoll aus seinen Fingern. Er wollte fortlaufen, aber er hatte keine Kraft. Die Feder stoppte, schwebte auf ihn herab. Ihre Spitze berührte seine Brust, da, wo sein Herz schlug. Langsam durchstieß sie seine Haut und drang in ihn ein. Er schrie, wie er noch nie zuvor geschrien hatte. Den stummen Schrei der bereits Toten. Dann brachen seine Augen, sein Gesicht wurde grau wie Asche und er kippte nach hinten. Das Ende der schwarzen Feder schaute aus ihm heraus, ihr Kiel tränkte sich mit seinem Blut und in die Erde kratzte sich damit ein großes -H-.

Mehr sah der andere nicht mehr. Mit Tränen in den Augen konnte der, versteinert, nur noch denken: »Nun bin ich dran!«. Aber es geschah nichts. Und er war allein mit seinem toten Freund, den er nicht mehr anzuschauen wagte.

 

Stunden ging dahin. Er rührte sich nicht vom Fleck. Keinen Millimeter. Er hatte nur den einen Gedanken, den er mechanisch immerfort wiederholte: »Wann wird es sein, wann wird es sein?«

 

Irgendwann erhob sich von ihm unbemerkt die Sonne über den Horizont und die Nebel lösten sich auf. Die Hitze brodelte in der Luft, schien zu kochen. Schweiß rann ihm in dicken Furchen über seine Augen. Er hatte noch die Empfindung, dass es eigentlich zu heiß wäre, da – bumm – traf ihn etwas auf seinen Kopf und er fiel lang hin. »Das ist der Tod«, dachte er. »Ich bin tot«. Doch er vernahm deutlich ein leises dünnes Gelächter um sich. Und jetzt spürte er über sich auch die Sonne. Wie weißglühendes Eisen. Er sank auf seine Knie. Er wusste, jetzt wird es sein.

 

Da. Die schlurfenden Schritte. Ein schwarzer Schatten. Das schwarze Etwas aus der Grube, mit den weißen flatternden Locken und den glasigen Augen im fahlen Gesicht, die ihn unverwandt ansahen.

 

Sein Herz schlug nicht mehr. In letzter Verzweiflung richtete er sich auf. Fiel wieder hin. Wischte sich den Schweiß aus den Augen. Richtete sich noch einmal auf. Und mit schwankenden Schritten stürzte er den Friedhofsweg entlang, an all den Toten vorbei, auch am Freund, ihn zurücklassend, nach vorn, zum großen, schmiedeeisernen Tor. Verschlossen. Er kletterte daran empor.

 

Das Tor wuchs höher und höher. So musste auch er höher und höher. Denn das Etwas war bestimmt schneller, würde ihn einholen. Er griff mit Händen und Füßen in die Eisenstäbe, trat da und dorthin, rutschte mit einem Fuß durch die Stäbe, riss ihn wieder heraus, und kam oben an. Und nun? Sechs. Über ihm und um ihn: Nichts. Fünf. Tief unter ihm der Friedhof. Vier. Und das offene Grab mit dem schwarzen Etwas auf seinem Grabstein. Drei. Und sein toter Freund. Zwei. Mit der Feder im Herzen. Eins. Und in der Erde um ihn herum von seinem Blut eingeritzt … -H-A-M-L-E-T-.

 

Er wich zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte krachend ins offene Grab. Sein verlöschender Blick fraß sich in die Beschriftung des Grabsteins: SHAKESPEARE.

 

Ein Sturm zog auf. Ein Loch tat sich auf in den Wolken. Und Shakespeare fuhr geradenwegs hinein in die Helle.

 

 

 

(C) Jürgen M. Brandtner - 10.04.2014

 

 

 

 

Leider konnte ich den Urheber nicht ermitteln.
Leider konnte ich den Urheber nicht ermitteln.